Lichtbilder der Ökonomie

Stets bemühen sich Soziologen, Künstler, Philosophen und Psychologen um das Verstehen von gesellschaftlichen Konditionen und Prozessen. "Aber was die Macht ist, weiß man wohl noch immer nicht. Und Marx und Freud genügen uns vielleicht nicht zur Erkenntnis dieser so rätselhaften Sache, die zugleich sichtbar und unsichtbar, gegenwärtig und verborgen ist, die überall ihre Hand im Spiel hat, und die man die Macht nennt. Die Theorie des Staates, die traditionelle Analyse der Staatsapparate erschöpfen das Aktionsfeld der Macht zweifellos nicht."0 Seit dem 19. Jh. hat die Politik mit Ausnahme der Gegenbewegung des Marxismus ihre Rolle als das übergeordnete System verloren. Die Ökonomie trennte sich ab, aber auch die Wissenschaft und die Künste bekräftigten ihren Autonomieanspruch. Die Massenmedienentwickelten ihr Eigenleben. "Die Entzauberung des Staates in der nachmodernen politischen Theorie entsubstantialisierte den Machtbegriff. Auch das politische System schien mehr nach dem System des Tausches in Netzwerken als nach dem Prinzip einer herrschaftlichen Machtpyramide organisiert zu sein."1 Trotz dieser Tendenz bleibt die Politik das wichtigste Subsystem zur Steuerung der Gesell-schaft. Die Politik bildet jenes System, das weitgehend die Verhältnisse bestimmt, während die Medien, die Sicht auf die Verhältnisse bestimmen. Die Bedeutung des Wortes "Telekratie"2 gewinnt immer mehr an Konturen, seit die jüngsten, historischen Ereignisse in Osteuropa zeigten, daß die Einnahme der TV-Sendezentralen den Sieg in politischen Auseinandersetzungen bedeutet. Mit beiden Systemen, der Politik und den Medien, setzt sich Ralf Peters in zahlreichen Arbeiten auseinander, nicht im Sinne einer theoretischen Analyse, sondern als visuell-sinnliche Manifestation.

1. Materielle Kommentare

Poltische Kunst heute, von Mark Dion bis Hans Haacke, funktioniert nicht mehr in abbildhafter Form. Kritische Inhalte werden als Metaphern dargestellt, als Allegorien heterogener Elemente, die mehrfache Bedeutungen zulassen, und die erst auf einer zweiten Ebene der Codierung ihre politischen Konnota-tionen enthüllen. So operiert auch Ralf Peters in seinen gesellschaftskritischen Arbeiten mit den verschiedensten Mitteln - Farbe, Skulptur, Objekt, Fotografie etc. -, die dem Künstler gegenwärtig zur Verfügung stehen. In einem Glaskubus laufen sechs kleine Ventilatoren (Abb.S.35,37). Durch die Abgeschlossenheit des Raumes scheint eine sinnvolle Nutzung dieser Ventilatoren, zum Luftaustausch oder zur der Produktion einer angenehmen, kühleren Temperatur, als völlig ausgeschlossen. "Zur Frage der passenden Ventilation gehen die Meinungen radikal auseinander. Es scheint unmöglich, allen zu gefallen. Es ist indessen unser Ziel, den Wünschen der Mehrheit entgegenzukommen. Der Lenker dieses Fahrzeugs wird gern dementsprechend angeregt; ihrer Mitarbeit wird gebührend geschätzt werden." Diesen Text eines Aufklebers in New Yorker Taxis mit der Überschrift "Ventilation" versah Marcel Duchamp mit der Unterschrift "DADATAXI. Limited" und veröffentlichte ihn als appropriiertes Kunstwerk in seiner Zeitschrift "New York Dada". Duchamp gehörte zusammen mit Picabia zu den Erfindern der "unsinnigen" Maschinen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Ihre dysfunktionalen Apparaturen füllten sie mit sexuellen oder philosophischen Inhalten. Auch die Arbeit von Ralf Peters ist einer dieser offensichtlich "unsinnigen" Apparate. Im Ventilatorenwürfel "O.T." wird in einem engen Raum lediglich viel Luft um Nichts gemacht.

Die "Edition Albrecht" (Abb.S.11) ist einem der wichtigsten Feinde des parlamentarischen Systems in Deutschland gewidmet. Das Werk existiert in einer Auflage von 15 Stück. Die Materialien dieser kleinen Assemblagen bestimmen bereits ihren Inhalt, die Gegensätze von Bürgertum und gewaltsamen Anar-chismus: der rote Teppichboden mit den grauen Sternen, die wie verblaßte Symbole des Anarchismus erscheinen, das Panzerglas, das zum Schutz von wertvollem Besitz oder für Politikerfahrzeuge verwendet wird, das Foto von Susanne Albrecht, das für die Fahndung nach den Terroristen benutzt wurde, und der Metallrahmen, der mit Hilfe des Teppichbodenstoffes das Gesicht der Frau in die linke Ecke zu zwängen scheint. Peters reflektiert nicht nur in dieser Arbeit, wer eigentlich wen und wie in der postmodernen Gesellschaft terrorisiert.
Gleichsam als Reaktion auf die Vereinigung beider Teile Deutschlands oder besser auf die Vereinnahmung des Kleineren durch das Größere schuf Ralf Peters 1990 eine Arbeit, die aus einem 200 cm langen, dünnen Metallstab besteht (Abb.S.6). Dieser wurde vom Künstler zu gleichen Teilen in den Farben Schwarz, Rot, Gelb bemalt. Die deutsche Flagge ist zur Linie geschrumpft, und die drei Farben können von dem Betrachter nur am Stabende gleichzeitig betrachtet werden. Diese Wahrnehmungssituation entspricht der Einheit eines Staates, die künstlich erscheint und deren innere Zerrissenheit durch den äußeren Anstrich verborgen wird. Mit Skepsis beäugt Ralf Peters das wachsende Nationalbewußtsein, nicht nur in Deutschland. Zudem weist der Künstler darauf hin, daß die deutsche Fahne gewöhnlich falsch, d.h. in den Farben Schwarz, Rot, Gelb und nicht Gold dargestellt wird, und damit bereits in der wichtigsten visuellen Repräsentation der deutschen Nation jener Moment der Ambivalenz und Täuschung steckt. Schon Ludwig Wittgenstein erklärte: "Man redet von der 'Farbe des Goldes' und meint nicht Gelb. 'Goldfarben' ist die Eigenschaft einer Oberfläche, welche glänzt oder schimmert. (...) Der Unterschied zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Rot-Gelb, - Gold gilt hier als Farbe."3
Wesentliche Konflikte in der Welt werden heute durch Nationalitäten- und Religionsstreit bestimmt. Quasi als Gegenentwurf zur Fragmentarisierungsten-denz der Weltordnung produzierte er als utopisches Konzept ein Denkmal des Internationalismus. Auf transparentem Gummi (Abb.S.39,41) druckte er vielfach in fünfzehn Zeilen die vier Begriffe "Weltuniversität", "Weltgericht", "Welt-parlament" und "Weltmuseum". Die Schrift ist wie im Zeitalter vor dem Buch gerollt und umgibt einen Metallstab. Diese Metallachse brachte der Künstler in jener schiefen Stellung an die Wand an, in der auch die Weltachse die Erdku-gel durchdringt. Ralf Peters wirft mit künstlerischen Mitteln die Forderung nach der Einführung von Instanzen auf, die weit effektiver als die mit nur geringen Befugnissen ausgestatten Organe der UNO die dringenden Probleme der Welt zu lösen vermögen.
Der Golfkrieg sollte eine von den USA dirigierte Weltordnung herstellen. Doch bleibt es fraglich, ob durch einen Krieg mit Hunderttausenden von Toten und Umweltschäden unbekannten globalen Ausmaßes eine dauerhafte Friedens-ordnung geschaffen werden kann. Die Befürworter eines Staates nach den Richtlinien des Koran lassen sich nicht durch militärische und ökonomische Mittel von ihrem Glauben abbringen.
In Ralf Peters' Arbeit "Body Bag" wird ein Sack wie ein Toter in einem Sarg aufgebahrt. Er stellt eine Rekonstruktion des Leichensacks dar, den die amerikanischen Truppen zur Aufbewahrung und zum Transport ihrer eigenen Opfer vorgesehen hatten - für den Künstler ein Symbol für die Massen an eingeplanten Toten dieses Krieges. Der Behälter ist eine perverse Kuriosität der Realität, die jene Menschenverachtung verkörpert, die einem hochtechnologisierten Krieg dieses Ausmaßes zu Grunde liegt. Der Sack ist eine Nachbildung entsprechend der Beschreibungen dieses "Body Bags" in den Medien. Er wurde gemäß der vorhandenen Angaben hergestellt und zum wesentlichen Bestand-teil eines Kunstwerks transformiert. So bildet der "Body Bag" kein Exemplar der Objektkunst, sondern ist in seiner erschreckenden Gegenwärtigkeit eine Imitation eines realen Gegenstandes.
Auch schon in früheren Arbeiten wie "Rechtsdrehende Eier" (1989) (Abb.S.8) versuchte Ralf Peters mit heterogen Ausdrucksmitteln politische Entwicklungen zu hinterfragen. Ein in schwarze Farbe getauchtes Nest ist im spitzen, unteren Winkel eines hölzernen Dreiecks postiert. Die durch den Titel gegebene Erwartung, darin Eier zu finden, wird nicht erfüllt. Die Form des Dreiecks wirkt bedrohlich und erinnert an den roten Keil, den die Weiße Armee schlägt, auf El Lissitzkys berühmten Revolutionsplakat. Bei Peters stößt die Spitze des Keils auf den Boden der Realität. Die Meanderverzierung des Dreiecks ist als Verweis auf den häufigen Gebrauch klassizistischer Motive in der nationalsozialistischen Architektur zu verstehen. "Rechtsdrehende Eier" entstand zu einer Zeit, als rechtsradikale Gruppierungen mit zweistelligen Prozentzahlen bei Kommunalwahlen die Stadtparlamente deutscher Großstädte eroberten. Ein Werk, das als Mahnung fungiert.

2. Der verstellte Blick

Ludwig Wittgenstein befaßte sich mit Hilfe einer gedanklichen Konstruktion mit der Wahrnehmung von Farben, nicht um eine Theorie der Farben (weder eine physiologische, noch ein psychologische) zu finden, sondern um eine Logik der Farbbegriffe zu erstellen: "Im Kino kann man manchmal die Vorgänge im Film so sehen, als lägen sie hinter der Leinwandfläche, diese aber sei durchsichtig, etwa eine Glastafel. Das Glas nähme den Dingen ihre Farbe und ließe nur Weiß, Grau und Schwarz durch. (Wir treiben hier nicht Physik, sondern betrachten Weiß als Farbe ganz wie Grün und Rot) - Man könnte also denken, daß wir uns hier eine Glastafel vorstellen, die weiß und durchsichtig zu nennen wäre. Und doch sind wir nicht versucht, sie so zu nennen."4
Vor ausgewählten Portraits von Politikern des Bayerischen Landtags (Abb.S.27,29) setzte Ralf Peters eine halbtransparente Opalplexiglasscheibe, die wegen ihrer weißen Einfärbung an eine Milchglasscheibe erinnert. Durch die semiopake Eigen-schaft dieses Materials kann man die Personen kaum mehr erkennen. Auch die Namen unter den Fotos sind nicht mehr zu lesen. Nur genaue Personenkenntnis gepaart mit einem guten Assoziationsvermögen kann zu einem erfolgreichen Erraten der Politikerpersönlichkeit führen. Durch das Plexiglas wird der gewohnte Blick auf die Politiker verstellt und die Rezeption der Images dieser in der Öffentlichkeit stehenden Personen in Frage gestellt. Die Irritation des Betrachters ermöglicht hier eine Reflexion über die visuelle Präsentation von Politik im Allgemeinen.
Für die Arbeit "Names" (Abb.S.519 verwendete Ralf Peters wieder jenen halbtransparenten, gelb gefärbten Gummi, den er auch schon für die Arbeit "Body Bag" benützte. Das Material läßt kein scharfes Sehen auf die dahinter liegenden Dinge zu. Es ist seltsam, daß gerade Waffen wie Messer oder Schwert mit dem Sehen die positive Eigenschaft "Schärfe" teilen. Was ein Blick enthüllen kann, kann ein Messer öffnen. Doch der Gummi verhindert dieses scharfe Sehen, vernebelt gleichsam die Konturen der Schrift, die sich dahinter befindet. Wie durch eine verkehrte Brille oder wie ein Betrunkener blickt man auf den Text, ohne ihn richtig erkennen zu können. Eine Behinderung in der Wahrnehmung, die im Kopf schnell zu einer tiefen Verunsicherung führt. Erst bei intensiver, längerer Betrachtung kann man das Wort "Namen" in englischer und - so vermutet man - in arabischer Sprache lesen. Der semiopake Gummi bildet eine anschauliche Metapher auf das Zukurz- und Zuvielsehen, auf die Abwehr der Bilderflut. Paul Virilio beschreibt, daß in den westlichen Ländern immer mehr Menschen Sonnenbrillen tragen, um sich gegen die Angriffe auf die Netzhaut zu schützen.5 Ein bewußtes Verdunkeln und Entschärfen des Blicks kann so nur als Gegenbewegung zu den immer schärferen Monitoren, lichtstärkeren Objektiven und helleren Projektoren gewertet werden. Der beschriftete Gummi bildet bei "Names" die Deckplatte eines Quaders, der an einen Sarkophag erinnert. Ralf Peters schuf die Arbeit zur Zeit des Golfkriegs. Sie stellt ein Modell für ein Monument der Opfer beider kriegsführenden Parteien dar, und unterscheidet sich damit grundsätzlich von den konventionellen Kriegerdenkmälern, die nur die Toten der eigenen Seite ehren. "Names" ist zudem eine Reminiszenz an das 1982 von Maya Ying Lin konzipierte "Vietnam Memorial" in Washington, auf der ausschließlich die Tausenden von Namen der amerikanischen Gefallenen eingetragen sind. Gerade den Verzicht auf heroischen Pathos, Patriotismus und Monumentalität schätzt Peters an diesem Werk.
In "INCONCRETO INABSTRACTO" (= das Konkrete, das Abstrakte) (Abb.S.47,49) ist es die verdreht Ordnung, das Hintereinander statt des Nebeneinanders, welche die Lesefähigkeit verringert. Sehen und Lesen werden aufeinander bezogen. Die einzelnen Lettern jedes der beiden Wörter wurde auf Glasscheiben angebracht und hintereinander postiert. Nicht zum Wahrnehmen, aber zum Lesen muß sich der Rezipient vom gewohnten Be-trachterstandtpunkt frontal zum Kunstwerk lösen. Denn nicht vom geraden, sondern nur vom seitlichen Blick können die Buchstaben zu Wörtern zusammengesetzt werden. Beide Wortreihen sind im schiefen Winkel, jedoch in entgegengesetzter Richtung angeordnet. Während die Glasplatten des Wortes "INCONCRETO" auf einem Regalwinkel stehen, also eine feste Basis besitzen, hängen die Scheiben von "INABSTRACTO" ohne erkennbare Halterung an dem Winkel. Das Abstrakte entspricht nicht der gewohnten Wahrnehmung von Materie, sondern ist ein Produkt des Geistes. Es scheint als hätte Peters mit seiner Arbeit diese komplexen Begriffe materialisiert.

3. Der unverhoffte Einblick oder das Spiel mit dem Voyeurismus

In Ralf Peters Werk "LIFE" (Abb.S.17,19) blickt der Betrachter durch ein kleines Guckloch auf den Bildschirm eines Fernsehappartes, der ein gerade laufendes Programm zeigt. Zunächst noch nichts vollkommen Ungewöhnliches, doch zwischen dem Auge des Rezipienten und dem Monitor schob der Künstler 56 Scheiben, das sind 28 cm geschichtetes Glas, das durch eine halbkugelförmige Konstruktion verborgen wird. Obwohl es sich hier um das Material Glas handelt, wird der Augenstrahl durch die Vielzahl der Scheiben so stark gebrochen, daß der Betrachter von dem Geschehen auf dem Bildschirm kaum mehr etwas identifizieren kann. Der Voyeur wird enttäuscht, er kann fast nichts erkennen. Die Konturen, der sich am Monitor bewegenden Figuren scheinen sich aufzulösen. "Obwohl wir das Licht der Geschwindigkeit ebensowenig verbergen können wie die Sonne mit unserer Hand verdecken, wird die Transmission bewegter Bilder und die Transmission bewegter Körper doch so schnell auseinandertreten, daß sich bald niemand mehr über die durch die Schnelligkeit hervorgerufenen Sehstörungen wundern wird: die lokomotorische Täuschung wird als Wahrheit des Sehens gelten, genauso wie die optische Täuschung als Wahrheit des Lebens gilt."6 Der durch die zahlreichen Vermittlungsebenen gestörte Blick ist der reale Blick. Theo Kneubühler geht soweit, zu behaupten, daß das Kunstwerk gerade die Aufgabe hat, die Erkenntnismöglichkeit zu erschweren, um weiterführende Reflexionen in Gang zu setzen: "Durch die Tatsache, daß das Bild nicht denkbare Konfigurationen zu erzeugen vermag, sagt es der Erkenntnis: Schau genauer, es gibt andere Möglichkeiten, die du nicht gesehen hast, nicht bedacht hast."7
In einer anderen Arbeit muß sich der Betrachter in eine kreisförmige Anordnung (Abb.S.21,23,25) stellen. Darin sieht er nicht ein Rundbild, etwa ein Diorama, sondern 36 Löcher gleichen Abstands in einer Metallkonstruktion. Sie laden ein, hineinzulugen. Was der Rezipient/Voyeur in einem Rundgang bei einem Blick durch jedes Loch erkennen kann, sind Aufnahmen, die der Künstler bei einem Rundgang mit der Fotokamera um ein jeweils unterschiedliches Objekt hergestellt hat. Der zyklische Ablauf wird in einen linearen verwandelt, indem die Dias in einer Röhre hintereinander angeordnet wurden. Das Einkreisen eines Gegenstandes ist so kaum zu erkennen. Der Versuch der Kubisten ein Objekt von seinen verschiedenen Seiten zu visualisieren, unternimmt Ralf Peters mit den Möglichkeiten des technischen Mediums Fotografie. Der Wunsch, einen Sachverhalt in seiner Verschiedenheit vollständig zu erfassen, findet hier seinen ungewöhnlichen Ausdruck.

4. Der getäuschte Blick

"Verdoppelung des Sehens: ist das soetwas wie eine zwiefache Optik oder zwiefache Semantik, einmal eher vom Auge her, vom Vordergrund des Darü-bergleitens mit den Haltepunkten, Anhaltspunkten und ihren Verbindungen, Verwebungen, welche gesehen werden, ohne daß sie sich einprägen, ohne zum bewußten Inventar der Bilder zu werden, sozusagen Überlegungen des Auges - das anderemal eher vom Echo her, das im Hintergrund des Bildes widerhallt, um etwas sehen zu lassen, das ich nicht sehe, besser, das ich nicht dort sehe, wo ich hinsehe? Vielleicht so: ich sehe etwas, weil ich etwas anderes sehe, oder weil ich zugleich etwas sehe, das ich nicht sehe. Ein verzerrender Spiegel, der mir ein Schlüsselloch zeigt, obwohl es eine Wasser-lache ist, einen Augenblick sehe ich deutlich das Schlüsselloch, um danach ebenso deutlich die Wasserlache zu sehen. Ist diese zwiefache Optik oder zwiefache Se-mantik nicht eine grundlegende Mechanik des Sehens? Erscheinung und Gestalt, Erscheinung und Erwartung, Erscheinung und Name, Er-scheinung und Abwesenheit eines Namens?"8
Kneubühler differenziert zwischen dem tatsächlichen Sehvorgang und der Wahrnehmung, das fixen Ideen verhaftet ist. Die Darstellung des Unterschieds zwischen Sehen und Wahrnehmen bildet den Ausgangspunkt neuester Arbei-ten von Ralf Peters. Wenn er den Blick des Betrachters unbemerkt lenkt und täuscht, geht es vorwiegend nicht um die Faszination an den optischen Phänomenen.
Ralf Peters evoziert in einer seiner neuesten Arbeit einen Durchblick (keine Abb.), der unvermutet nicht gerade, sondern durch ein kompliziertes Spiegel-system geleitet im Kreis verläuft. Die unbemerkte Manipulation des Sehens, wie sie tagtäglich in den Massenmedien geschieht, wird hier auf künstlerische Weise demonstriert. Nur der aufmerksame Betrachter erkennt vielleicht an kleinen Unstimmigkeiten, daß sein Blick gelenkt wird.
Der Spiegel scheint das geeignete Medium zu sein, über Sehgewohnheiten zu reflektieren. In Ralf Peters Werk "Bilder" (Abb.S.59,61) wird jedes von der Frontalität abweichende Sehen mit Verzerrungen und Sprüngen im Spiegelbild bestraft. Peters montierte zu diesem Zweck fünf verschieden große Spiegel-flächen übereinander. Von der Seite kann der Betrachter die Kanten der aufgeklebten Spiegelteile erkennen, stellt er sich aber der Arbeit frontal gegenüber, verschwinden die Ränder, die einzelnen Facetten verfließen zu einem einzigen Spiegelbild. 5. Zu den Bedingungen des Kunstgenusses
Zum Kunstgenuß gehören zwei: das Kunstwerk und der Rezipient. Ralf Peters greift in seiner Arbeit "Rezipient" (Abb.S.55) die doppelte Bedeutung dieses Wortes auf. Rezipienten nennt man nämlich nicht nur eine Person oder Sache, die etwas betrachtet, aufnimmt oder empfängt, sondern in der Physik auch eine Glasglocke mit Ansatzrohr für eine Vakuumpumpe zum Herstellen eines luftleeren Raums. Doch vielleicht sind beide Bedeutungen gar nicht so verschieden voneinander, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Ralf Peters geht von der Vorstellung aus, daß um so "leerer" ein Kunstrezipient ist, desto aufnahmebereiter ist er für ungewohnte sinnliche Erlebnisse. Eine ideale Situati-on, die im Grunde höchstens bei Kindern existiert. Ralf Peters Arbeit funktioniert wie ein Ready-Made von Marcel Duchamp, d.h. sie kann sich in ihrem Werkcharakter erst in einem als Kunstraum ausgewiesenen Topos entfalten. In einem technischen Museum würde die Glasglocke in einer Vitrine niemanden in Erstaunen versetzen, in einer Kunstausstellung jedoch verbindet jeder der Besucher mit dem Begriff "Rezipient" sich selbst und versucht eine Verbindung zwischen sich als Kunstbetrachter und der Form des dreidimensionalen Kunst-werks herzustellen, ohne im Normalfall von der physikalischen Bedeutung des Wortes zu wissen. Die Rezeption wird zur Falle.
Auf einer Konfrontation von Begrifflichkeit und Seherlebnis basiert ebenfalls die Arbeit "Ästhetik" (Abb.S.31,33). Ein Raum wird durchmessen und gestaltet von einer transparenten Leiste, auf der die Erklärung des Wortes "Ästhetik" nach "Meyer`s Enzyklopädie" geschrieben steht. Die lexikalische Erläuterung dieses Begriffes vollzieht sich hier jedoch nicht im Rahmen eines Buches, sondern als Rauminstallation. Damit entsteht eine seltsame Tautologie. Denn das, was mit Worten auf einer intersubjektiven Ebene erklärt wird, schafft Ralf Peters auf einer subjektiven Ebene mit den Mitteln des Künstlers. Will der Rezipient den Begriff "Ästhetik" auf der Ebene der Schrift verstehen, muß er sich der Disposition des Künstlers unterwerfen und an der Leiste entlangschreiten. Wer lesen will, muß gehen. Auf der Ebene der bildenden Kunst dagegen kann der Betrachter Ästhetik ad hoc erfahren. Denn die Strukturierung durch das Schriftband erzeugt ein in besonderer Weise sinnlich wahrnehmbares Raumerlebnis. In der Gegenüberstellung von Text und Bild scheint letzteres in bezug auf seine Nutzung deutliche Vorteile zu besitzen.
"Illusion der Farbe" (Abb.S.53) bildet den Abgesang des Künstlers an die Malerei. Für Ralf Peters ist es in der derzeitigen Situation der Kunst undenkbar, in konventioneller Weise mit Pinsel und Farbe zu hantieren. Die einzig mögliche Auseinandersetzung mit Farbe bildet für ihn die Chromatographie, die auf einem chemischen Vorgang beruht. Auf den unteren Rand eines Büttenpapiers zog Ralf Peters einen schwarzen Strich. Das Papier wurde in Alkohol getaucht, der aus dem Schwarz die Farben Blau, Rot und Gelb herauszieht. Dieses farbige Bild präsentiert Peters nicht an der Wand, sondern steckt es zur Konservierung in einen transparenten Behälter, als sollte es für spätere Zeiten sicher aufbewahrt werden.
Ein Rahmen, der gerade an der Wand hängt, ist die Voraussetzung für die richtige Präsentation eines Bildes. Das wichtigste Instrument für eine gute Hän-gung ist die Wasserwaage. Sie repräsentiert das durch die Gravitation gesetzte Regulativ, das die "richtige" Präsentation von Bildern bestimmt. Ralf Peters montierte vier Wasserwaagen (Abb.S.57) zur Idealform des Quadrats. Er nannte die Arbeit "Der Nabel der Welt" und schuf damit ein Paradox. Denn verschiedene Orte nehmen diese Titulierung, die im Kern einen Machtanspruch bedeutet, aus verschiedenen Gründen in Anspruch, während das Werk von Ralf Peters auf jedem beliebigen Punkt der Erde in gleicher Weise präsentiert werden kann. Seine Konstruktion ist so angelegt, daß die Seiten des Quadrats austauschbar sind. Sind sie "im Wasser", so stimmt die Arbeit. Hängt es an der Wand, sieht es aus wie ein Rahmen, dem das Bild fehlt. Doch der "Wasser-waagenrahmen" ist das Bild. Oder ist es beides? Auf jeden Fall werden von Ralf Peters mit dieser Arbeit die gewohnten Kategorien von Bild, Rahmen und realem Gegenstand für die Rezeption von Kunst in Frage gestellt. Manche werden das Werk als leer kritisieren, die einfache Konstruktion und den minimalen handwerklichen Aufwand bemängeln. Doch jene begreifen nicht die Tragweite seiner ästhetischen Fragestellungen, welche die Definitionsproble-matik von Kunst verschärfen, und die unumgänglich sind für einen Künstler, der in der Gegenwart nach neuen, adäquaten Ausdrucksmitteln Ausschau hält. Arthur C. Danto schreibt über den signifikanten Unterschied zwischen einem Alltagsobjekt und einem Kunstwerk, das auf Alltagsobjekten basiert: "Meine Ansicht ist die, daß ein Kunstwerk sehr viele Eigenschaften hat, ja sogar sehr viele, die von ganz anderer Art sind als die jener materiellen Objekte, die von ihm zwar unterscheidbar, aber selbst keine Kunstwerke sind."9 Diese spezifischen Eigenschaften, von denen Danto berichtet, entstehen dadurch, daß jedes Kunstwerk, auch wenn es wie "Der Nabel der Welt" und andere Arbeiten von Ralf Peters lediglich aus Alltagsgegenständen besteht, ein ästhetisches Argu-ment innerhalb des historisch bedingten Kunstdiskurses darstellt. So kann ein Gegenstand die Intentionen eines Künstlers aufzeigen und verdeutlichen, auch wenn er sich äußerlich von einem nicht als Kunstwerk deklarierten Gegen-stand überhaupt nicht unterscheidet.

1 Foucault, Michel, Gespräch mit Gilles Deleuze. Die Intellektuellen an die Macht, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Berlin/Wien 1978, S. 135

2 Beyme, Klaus von, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, Frankfurt am Main 1991, S. 23

3 Vgl. Weibel, Peter (Hg.), Von der Bürokratie zur Telekratie, Berlin 1990

4 Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über Farben, in: ders., Über Gewißheit, Werkausgabe Bd. 8, 4. Auflage, Frankfurt am Main, 1990, S. 20 u. 36?

5 Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über Farben, S. 18

6 Vgl. Virilio, Paul, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S. 57f

7 S. ebd., S. 56f

8 Kneubühler, Theo, Wahrheit ist einfach, Bild ist Täuschung ..., in: ders., Wegsehen, Berlin 1986, S. 86

9 Kneubühler, Theo, Denklagen des Sehens, in: ders., Wegsehen, S. 64f

10 Danto, Arthur C., Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main 1991, S. 148

Justin Hoffmann