Quit konventionelle Interpretation! Open visionäre!
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Zu den "Geschenken an Architekten" von Ralf
Peters
Das Werk "Geschenke an Architekten" erscheint
Mitte der neunziger Jahre zu einer Zeit im Kunstbetrieb, in der dort
Verunsicherung und Orientierungslosigkeit vorherrschen. Gesucht werden
neue Modelle, gefunden werden sie nicht. Höchstens erste Hinweise
lassen sich entdecken. Eine Ahnung durchweht die aufgeweckteren Geister,
eine Nervosität ist spürbar, die die Kunst nicht in Frage
stellt, sondern sie weitertreiben will. Auf der einen Seite werden Verteidigungslinien
aufgebaut, die gar nicht angegriffen werden, auf der anderen Zukunftsvisionen
verfolgt, die sich mangels bereits vorhandener Werke kaum formulieren
und erst recht nicht demonstrieren lassen. Nur das Ungefähre ist
erahnbar und es verbindet sich mit der Hoffnung auf aufregende Zeiten
im positiven Sinne.
Die "Geschenke an Architekten" stehen dabei mittendrin. Sie
sind ein hochinteressanter Bastard. Sie zu interpretieren, kann sowohl
im bisher üblichen Rahmen erfolgen als auch im visionären.
Und die Interpreten beiden Richtungen können zufrieden sein, das
Werk gibt ihnen soviel, wie sie von der Welt von heute verstehen. Das
beginnt mit dem Titel. Man kann ihn wörtlich nehmen, von den Architekturentwürfen
sprechen, die den Architekten, den wirklichen vom Bau, als Geschenk
angeboten werden. Man kann und sollte ihn aber auch als Metapher lesen,
es sind Geschenke an jene, die die nächsten Schritte in Kunst und
Kultur bauen, an die geistigen Architekten, die Vorausdenker und -planer
in den neuen Medien und Formen der Zukunft. Diese Dinge müssen
organisiert werden, genau kalkuliert werden, ihre Tragfähigkeit
muß geprüft werden. Exakt damit beschäftigt sich das
Werk und gleichzeitig weist es darauf hin, daß dies ein Prozeß
ist, bei dem vieles aus der bisherigen Welt daraufhin untersucht werden
muß, unter welchen veränderten Gesetzen es in Zukunft gewinnbringend
verwendet werden kann. In dieser Untersuchung geht es auch um die Kunst.
Doch bevor die visionäre Interpretation erfolgt, soll erst - zugegebenermaßen
ein wenig lustlos - die kon- ventionelle erfolgen. Wer jetzt schon weiß,
daß sie ihn nicht interessiert, mag die nächsten drei Absätze
überspringen und sich erst bei "Die visionäre Interpretation..."
wieder einklinken.
Im Kunstforum unter der Maximilianstraße, einer großen Ausfall-
und Einfahrtstraße Münchens, die gleichzeitig eine teure
Einkaufsmeile ist, drehen sich eine Reihe von milchig durchsichtigen
Plastiktüten, mit und ohne Inhalt, als seien sie ein Karussell.
Sie rollen gleich dem Verkehr auf der Straße auf der linken Seite
in die Stadt hinein, auf der rechten aus ihr heraus und nehmen dabei
die Form eines Rondells ein, wie tatsächlich an exponierter Stelle
auch eines auf dieser Straße existiert. Die Bewegung erzeugt ein
technisches Geräusch, daß sich harmonisch in die übrigen
Stadtgeräusche samt donnernder Straßenbahn mischt. Der Künstler
sitzt im Zentrum dieser Bewegung und arbeitet. Er produziert und füllt
seinen showroom nach und nach mit seinen Produkten.
Die Tüten sind von Schnitt eher das Gegenteil der Aldi-Tüte
und mehr die maßgeschneiderte Ausführung der etwas teureren
Art, es gibt kleine lange und große breite Tüten. So wie
man an den Schaufenstern vorbeiflaniert, flanieren hier die Tüten
am Betrachter vorbei. Man müßte sie anhalten, sie herunternehmen,
so als ob man seinen Einkaufsbummel unterbricht, um tatsächlich
ein Geschäft zu betreten, etwas von der Stange zu nehmen, um es
haptisch zu erwerben, zu kaufen und damit stolz nach Hause zu ziehen.
Der Inhalt der Tüten ist unterschiedlich, mal nur eine gerollte
Zeichnung, dann wieder ein ganzes individuell gebautes Modell, zuweilen
ist auch ein Foto dabei, kurzum, es handelt sich um mehr oder weniger
weit ausgeführte Skizzen von innenarchitektonischen Ideen. Der
Käufer erwirbt mit dem Kauf der Tüte auch das geistige Urheberrecht
zur Realisation des betreffenden Projekts. Manches aus diesem Fundus
scheint gut geeignet für Bauarchitekten, die noch den ein oder
anderen Eingangsbereich etwas attraktiver gestalten möchten. Es
entsteht eine gewisse Lust, einiges davon realisiert zu sehen. Der Künstler
wäre sicherlich ein guter Berater im architektonischen Bereich.
Doch hier lauert eine Tücke des geschaffenen Objekts. Die Räume
existieren bereits, ist sind Räumlichkeiten des Kunstbetriebs,
Museen und Kunstvereine, für die die Entwürfe angefertigt
wurden. Konsequenterweise kämen daher sinnvollerweise nur die jeweiligen
Institutionen als Käufer in Betracht, da gerade sie über die
entsprechenden Räume verfügen. Ansonsten bleiben die Ideen
Träume, Künstlerträume und Sammlerträume. Für
den Künstler allerdings wäre eine plötzliche tatsächliche
Realisation überflüssig, denn für ihn hat die Ausstellung
bereits in dem Moment stattgefunden, in dem er sein Geschenk in die
Tüte packte. Er hat sie verschenkt, er braucht sie nicht mehr und
außerdem verfügt er über viele Ausstellungen, genaugenommen
rund 30 aus dieser Serie und 64 aus einem vorangegangenen Projekt. Für
ihn zählt der Prozeß der Idee, das Arbeiten daran und genau
dies stellte er über sechs Wochen hinweg aus. Damit wäre das
Thema Künstler in der bewegten Stadt, leicht Kritik übend
am Kunstbetrieb und der Konsumgesellschaft, konventionell interpretiert,
abgehakt.
Die visionäre Interpretation interessiert sich weder für den
Bezug zur Straße über dem Ausstellungsort noch für die
architektonischen Gestaltungsideen und schon gar nicht für die
Tüten in Form von Boutiquenverpackungen. Die Tüten werden
hier zu Ordnern, Unterverzeichnissen in Computerprogrammen, Verknüpfungen
innerhalb interaktiver Systeme, die entweder gefüllt sind oder
nicht. Ob sie Inhalt enthalten oder nicht, und wenn ja, welchen, ist
von außen nur zu erahnen. Eine Hülle nach der anderen zieht
am Auge vorbei und offeriert Angebote, die man erst entpacken muß,
um sie wirklich beurteilen zu können. In einem weiteren Schritt
sind diese Angebote sogar benutzbar. Denn dort, wo wir uns jetzt in
der Vision bewegen, verfügt man über digitale Werkzeuge, die
einen in die Lage versetzen die geschenkten Ideen tatsächlich auszuprobieren.
Ausstellungen sind dort mit allen Orten möglich, man konstruiert
sich diese Orte detailgetreu nach und pflanzt ihnen die Idee, das Geschenk
ein. Die Werkzeuge zum Konstruieren der Orte sind bereits weiter entwickelt
als die Inhalte dafür. Deswegen präsentierten sich auch am
Anfang noch nicht alle Hüllen gefüllt, sie enttäuschten
die Erwartungen, so wie dies heute jeder in den weltweiten Netzwerken
erleben kann, wenn er auf eine verlockende Verpackung hereinfällt.
Andererseits lernt man dort jedoch auch - wenn man willens dazu ist
- daß vieles von seiner Strukturierung her auf Größe
angelegt ist, eben weil man das Rahmengebäude bereits gestalten
kann, während der Inhalt noch viel Zeit braucht. Doch allein die
Struktur des Rahmens ist schon verlockend, man muß die Prototypen
nur schätzen lernen.
Die Hüllen bewegen sich gemächlich vor dem Auge des Betrachters,
der Draht, das Kabel, die Leitung, an der sie hängen, zieht ruckelnd
und eher träge die Angelegenheit weiter, ganz so wie ein zu schwaches
Modem mit seinen Botschaften im Datenleitungsstau hängenbleibt.
Das Gewünschte kommt nur langsam vorbei und wenn man es tatsächlich
erfahren will, muß man sich bewegen, darauf reagieren, es verfolgen,
letztendlich anhalten und es aus seiner Verpackung befreien. Gefällt
es nicht, kann man es ohne weiteres wieder hineinstecken und schauen,
ob das nächste Angebot besser ist. Vielleicht ist es allerdings
auch möglich, es mit bereits vorhandenem Material zu kombinieren,
zu verknüpfen, auf jeden Fall sich die Nummer der Hülle schon
einmal zu merken.
"Geschenke an Architekten" gibt weitere Hinweise für
die visionäre Interpretation. Manche Zeichnungen sind gerollt,
als hätten sie sich für die Rohrpost präpariert, um möglichst
schnell von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Die Eisenkonstruktionen
an der Decke, die die Elektromotoren halten, welche den Draht antreiben,
sehen aus wie umgekehrte Stative. Sie assoziieren, daß der Raum
sich drehen ließe, die Decke wird zum Boden, die Hüllen laufen
plötzlich nicht mehr in Kopfhöhe, sondern in Kniehöhe
am Betrachter vorbei. Der Inhalt der Skizzen selber führt ebenfalls
zur visionären Interpretation. Oftmals handelt es sich um Videopräsentationen,
in denen das Video auch austauschbar erscheint. Genaugenommen hat man
es mit Vorschlägen zur Präsentation multimedialer und interaktiver
Terminals zu tun. Die Skizzen beziehen sich bei näherem Hinschauen
weniger auf Ausstellungen des Künstlers, sondern fordern zum Umfunktionieren
der Ausstellungsräume auf. Die Ausstellung ist ein trojanisches
Pferd, in Wirklichkeit handelt es sich um den Rahmen für die Inhalte,
die noch kommen werden.
Das System zeigte sich zudem ausbaufähig. Leicht hätte der
Weg durch einige Kurven mit zusätzlichen Elektromotoren und Umlenkpunkten
verlängert werden können, so daß weitere Hüllen
an die Aufhängung gepaßt hätten. Die Grenzen des System
lagen nur im Raum, ganz so wie beim Arbeitsspeicher und der Festplattenkapazität
des Computers.
Doch der Künstler wollte sich nicht übernehmen. Er bildete
den Inhaltslieferanten in der Mitte des Systems und konnte nur ein gewisses
Pensum in sechs Wochen schaffen. Ein leeres Hüllenensemble, oder
auch ein halbleeres, erweckt einen unbefriedigenden Eindruck. Das System
mußte nie ganz fertig erscheinen, aber es gab einen Zeitpunkt,
da rief es zumindest einen fertigen Eindruck hervor. Gleichzeitig war
der Künstler am Testen, ob sein Inhalt auch funktioniert. Die Betrachter,
die Benutzer, die User kamen zu ihm, sie klinkten sich in seinen Prozeß
ein und probierten sein Produkt aus. So besaß er die Möglichkeit,
auf Fehler zu reagieren, Anregungen nachzugehen, Dinge noch einmal aus
der Hülle zu nehmen, sie zu verbessern und wieder dort abzuladen.
Es ist sogar anzunehmen, daß der Künstler nichts dagegen
einzuwenden hätte, wenn der berechtigte Benutzer, sprich der Käufer,
den Inhalt seiner Hülle selber noch einmal verändern würde,
um ihn seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen anzupassen.
"Geschenke an Architekten" entwickelte sich, wie so vieles
zur Zeit, aus einem vielleicht nur ähnlichen Ansatz heraus zu dem,
was nun die visionäre Interpretation ermöglichte. Es zeigt
durchaus noch seine Quellen in der konventionellen Interpretation. Doch
sein Grundansatz wies bereits in die weiterführende Richtung. Die
Idee wird verpackt, verschwindet zwar nicht völlig, aber erscheint
doch nur noch verschwommen sichtbar. Sie bleibt jedoch abrufbar, bietet
sich in ihrer Bewegung immer wieder einmal an, zur Betrachtung und zur
Benutzung. Sie ist damit ein temporäres Kunstwerk, eines, das kommt
und geht, eines, daß vielleicht schon wieder anders aussieht,
wenn es erneut auftaucht, aber auf jeden Fall eines, das man abrufen
muß. Bleibt der Betrachter passiv, marschieren die "Geschenke
an Architekten" einfach weiter.
Christoph Blase
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